Dieser Text versucht keine umfassende Interpretation der Performance On Orientations | Untimely Encounters. Er ist auch keine Analyse des choreografischen Arbeitsprozesses, der dem Stück vorausgegangen ist. Der Text ist vielmehr die Spur einer assoziativen Gedankenkette, die dieses Stück bei mir ausgelöst hat. Keine Analyse also, sondern „an untimely encounter“, eine unzeitgemäße verbale Begegnung mit der Performance.
Ich werde in meinem Text die angemessene Zeitform hintergehen, indem ich über die Performance sprechen werde, so als würde sie jetzt gerade stattfinden. Diese zeitliche Verschiebung, die Verweigerung des Präteritums, wird ein wenig komisch wirken, denn die Performance findet nicht jetzt statt. In diesem Moment ist sie allenfalls in unseren Erinnerungen präsent. Dennoch scheint mir dieses Insistieren auf das Präsens die einzige Form des Sprechens zu sein, die es mir ermöglicht, mit der Performance mitzudenken – mehr als über die Performance nach-zudenken.
Erinnern wir uns also an den Beginn der Performance.
Da ist ein Körper. Nicht sein und nicht ihr Körper. Ein Körper. In einem Lichtfeld stehend, in die Mauer schauend. Langsam beginnt er sich zu bewegen, die Hände tasten die Wand entlang. Organische Oberfläche auf unorganischer Oberfläche. Das Soundscape verdichtet sich währenddessen und rotierende Klänge erwecken den Eindruck, als würde das Starten eines Helikopters in großer Entfernung und in endloser Suspension hörbar sein. Die Musik beschleunigt meinen inneren Rhythmus während die Bewegungen des Performers einer völlig konträren Temporalität angehören. Behutsam, in Ruhe. In seiner Langsamkeit spricht sich eine Resistenz gegen das permanente Beschäftigtsein und Sich-Beschäftigen der Gedanken und Sinnesorgane aus. Die Hände streifen die Wand entlang, fühlen ihre Oberfläche, ohne dass sie irgendetwas Bestimmtes zu suchen scheinen, streichen über den Boden. Das Tempo des Visuellen und des Akkustischen klaffen an dieser Stelle auseinander und schaffen in ihrer Divergenz einen Spannungsraum, der uns etwas erwarten lässt, was noch nicht da ist.
Die Potentialität dieser aktiv passiven Bewegungen ist die Möglichkeit einer kommenden Begegnung, einer noch unbekannten Singularisierungsweise, die sich nicht zu einer unbedingten Aktualisierung oder Verwirklichung auffordern lässt. Es geht nicht um die Potenz dieses Körpers, um ein Vermögen, das nur darauf wartet, aktualisiert zu werden, das in der Aktualisierung sein einziges Ziel kennt. Da ist viel eher ein Vermögen im Spiel, das nicht mehr auf eine Aktualisierung angewiesen ist, denn, so formulierte es Gilles Deleuze: „Man verwirklicht nie alle Möglichkeiten, man schafft sogar in dem Maße, wie man sie verwirklicht, neue.“1
Die Haut scheint eine wichtige Rolle zu spielen bei den beweglichen Erkundungen des Körpers. Sie wird gewöhnlich einerseits als Kontaktorgan mit der Umwelt und andererseits als Grenze des Organismus betrachtet. Der Körper endet allerdings nicht mit seiner Haut. Er ist ausgedehnt. Seine Grenzen nicht sichtbar. Als Spürender, Ausgedehnter und Exponierter rührt der Körper an das ihm Äußerliche und berührt sich dabei selbst. An „untimely encounter“. Es sieht so aus, als würde der Körper des Performers sich in der Wahrnehmung seines Umraums selbst wahr–nehmen. Es ist wahr, dieser Körper ist da, in der Wahrnehmung des Raums, in dem er sich befindet, ist er präsent. Und sein Innenraum, seine Organe sind jetzt Teil dieses Raums, sodass die Begriffe Um-Raum und Innen-Raum ihre Bedeutung verlieren. Außen- und Innenraum scheinen einander in gewisser Weise zu entsprechen. Eine definitive Grenzziehung ist jedenfalls unmöglich. Und es sieht so aus, als würde der Körper die Innerlichkeit des Außenraums erforschen, ertasten und damit sein eigener Innenraum als Äußerlichkeit sichtbar werden. Im zweiten Teil des Stücks kommt ein weiteres Kontaktorgan ins Spiel: das Auge, der Blick. Was ist das Verhältnis von Blick und Berührung, von Haut und Netzhaut? In dem Buch „On touching – Jean-Luc Nancy“, dem wahrscheinlich ausführlichsten Text, der ganz der Berührung gewidmet ist, schrieb Jacques Derrida: „Don´t we have to make a choice between looking or exchanging glances or meeting gazes, and seeing, very simply seeing? And first between seeing the seeing and seeing the visible? For if our eyes see what is seeing rather than visible, if they believe that they are seeing a gaze rather than eyes, at least to that extent, to that extent as such, they are seeing nothing, then, nothing, that can be seen, nothing visible.“2 Blickachsen überkreuzen sich zunächst oder verlaufen parallel, die Körper erspähen einander peripher. In der Ähnlichkeit ihrer Bewegungsrhythmen, ihres Tempos und ihrer Raumwege zeigt sich eine flüchtige Gemeinsamkeit, eine Gleich-Zeitigkeit. Was/wer ist das Objekt einer Berühurng, mit anderen Worten, wer wird und ist berührt und wer, auf der anderen Seite, ist das berührende Subjekt? Und gibt es überhaupt zwei Seiten? Gibt es den Berührenden und den Berührten bzw. den Berührenden und das Berührte? Oder ist es genau der Punkt, an dem diese Unterscheidung unmöglich wird, ein Punkt der Instabilität, eine Ununterscheidbarkeitszone zwischen Objekt und Subjekt, in die wir uns begeben, wenn wir berührt berühren. Ja, jede wirkliche Berührung ist zugleich Berührt-Werden.
Die Körper in Untimely Encounters nehmen sich Zeit. Jede Bewegung entfaltet den ihr gebührenden Zeitraum. Es wirkt so, als würden diese Körper nachdenken oder eher noch ganz in eine Wahrnehmung vertieft sein, immer neue Kontaktstellen erspürend und aufspürend. Die Langsamkeit dieser ständigen Kontaktaufnahme mit der Umgebung, mit dem umgebenden Raum, seiner Architektur und dann mit der anderen Performerin lässt nicht auf die Passion einer Einverleibung schließen, sie hat nicht den Gestus einer Vereinnahmung oder einer Besetzung eines Territoriums. Es ist eher ein Sich-Herantasten. Woran? Jede Bewegung ist mit einer großen Achtsamkeit ausgeführt – als würde die Haut auf die neuen Berührungspunkte mit dem Boden, der Mauer oder dem Körper der anderen, die mit jeder Bewegung neu entstehen, horchen. Als würde die Hand dem Boden zuhören, der Kopf der Luft lauschen und die Haut die Beschaffenheit jeder neuen Oberfläche registrieren. Und die Berührung des Körpers der anderen oder deren Umraum ist auch ein Rühren an den Sinn. Ein Berühren des Sinns – in der Doppeldeutigkeit des Wortes: des Sinnlichen und des Sinnhaften. Ein Berühren einer Grenze, die nie Besitz werden kann, sondern einzig im wiederholten Berühren ihrer selbst spürbar wird. Zwei Körper nähern sich an, wahren eine Distanz, die der Potentialität einer noch nicht stattfindenen Berührung Raum gibt. Sind wir nicht gerade in den Momenten ihres Nicht-Stattfindens berührt? Die Arme zeigen kurz eine gemeinsame Richtung an und die Körper ruhen einander in dieser flüchtigen Übereinstimmung aus. Jede Berührung erfordert Getrennt-sein und eine Heterogenität der Oberflächen – darauf hat Jean-Luc Nancy wiederholt hingewiesen. Wo gibt es Berührungspunkte jenseits der körperlichen Kontaktstellen? Die Performerinnen schauen einander direkt in die Augen: Ein momentanes Zusammenfallen der Blickachsen, aber auch dieser Anblick dauert nur einen Augenblick. Es folgt keine Verschmelzung der beiden Körper, kein Gleich-werden, es gibt kaum Übereinstimmungen – bis auf die geteilte Raumzeit und das gemeinsame Tempo. Es ist eine Begegnung von Fremden, alles fremd in diesem künstlichen Zeitraum – eine Fremdheit, die uns unheimlich vertraut ist. Nicht zuletzt handelt es sich um die Vertrautheit der eigenen Fremdheit, einem permanenten Sich-Selbst-Fremdwerden im zunehmenden Kontakt mit dem anderen. Und ein Sich-Selbst-Freund werden im stetigen Fremdwerden, äußerlich werden. Entfernung und Annäherung sind die Koordinaten einer Begegnung zweier Körper, die sich nicht miteinander identifizieren, sondern einander in ihrem Zusammen- und Aneinandervorbeitreffen immer unbekannter werden. Beide Körper ein von Mal zu Mal, abhängig vom Kontext ihres Stattfindens, ein permanenter Übergang. Wie auch der Raum, in dem das Neonlicht plötzlich verschwindet und der dadurch sehr kühl erscheint. Verloren und allein sind diese Körper in ihrem gemeinsamen Getrennt-sein in der Leere dieses Raums – ohne Halt außer dem Anhaltspunkt einer ständig neuen Kontaktstelle. Außer dem Aushalten der Unaneigenbarkeit des anderen und dem Innehalten in seiner Berührung. Die Flüchtigkeit ihrer Begegnungen ist die Spielstätte ihres Sinns. Eine gewisse Widerständigkeit gegen die Abschließung jeglicher Bedeutung zeichnet die Bewegungen der Performerinnen aus. In der Unentscheidbarkeit ihrer geschlechtlichen Identität bahnen diese beiden Körper sich ihren Weg – ohne eine finale Gemeinschaft, Einigkeit oder Vereinigung – und ohne eine endgültige Entfernung voneinander. Eine Begegnung ohne Substanz – außer der Äußerlichkeit und Exposition ihres Stattfindens – in der Modulation des Abstands voneinander. Weder zufällig noch intentional. Aber in der planvollen Kontingenz ihres je singulären Zusammentreffens.
[1] Vgl. Gilles Deleuze, Erschöpft (übersetzt von Erika Tophoven), in: Samuel Beckett, Stücke für das Fernsehen, Frankfurt/M., 1996, S. 51.
[2] Jacques Derrida, On touching: Jean-Luc Nancy (übersetzt von Christine Irizarry), Stanford: Stanford University Press, 2005, S. 2.